1. Einleitung

Dresden galt bis zu seiner fast völligen Zerstörung im Februar 1945 als eine der schönsten Städte Europas. In erster Linie werden damit die berühmten Barockbauten der sächsischen Residenzhauptstadt in Verbindung gebracht: Zwinger, Frauenkirche, die katholische Hofkirche oder die Vielzahl adliger Palais, wie z.B. das Taschenbergpalais. Weniger im Bewußtsein sind die Villen, Stadthäuser und öffentlichen Kulturbauten des 19. Jahrhunderts, obwohl gerade diese in größerer Anzahl vom Krieg verschont wurden. Diese Bauten fügten sich in einer bemerkenswerten Harmonie in den vorgegebenen landschaftlichen Rahmen des Elbtales ein. In einer Art Villenlandschaft umzog ein Kranz schlichter Landhäuser und vornehmer Villen den dicht bebauten barocken Stadtkern. Auffällig ist auch, daß die Industrie- und Eisenbahnanlagen aus dem vergangenem Jahrhundert keine allzu empfindliche Beeinträchtigung des Stadtraumes ergaben, obwohl Dresden die Hauptstadt eines der am stärksten industrialisierten Länder Deutschlands im 19. Jahrhundert war.

Die folgende Arbeit soll die Ursachen dieser städtebaulichen Leistung, die im deutschen bzw. europäischen Städtebau des 19. Jahrhunderts im Grunde ohne Parallelen war, aufzeigen. Insbesondere wird die Entstehung und Ausbildung der für Dresden typischen offenen Bauweise zu analysieren sein, da die aufgelockerte Bebauungsart mit freistehenden Häusern wesentlich dazu beitrug, den Charakter Dresdens als große Gartenstadt zu prägen.
Ein Hauptabschnitt wird sich mit der Frage auseinandersetzen, wie sich vor Beginn des wissenschaftlich begründeten Städtebaus ab den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bürgerliche Planungsstellen in Dresden um einen geordneten Stadtaufbau in der sich rasch entwickelnden Residenzstadt bemühten. Es interessieren die Grundlagen für eine Entwicklung, die am Ende des 19. Jahrhunderts trotz politischer und wirtschaftlicher Stagnation um 1800, trotz industrieller und demographischer Revolution ab 1850 eine Stadt geformt hatte, die man als ein "Gesamtkunstwerk" bezeichnete.
So sollen die Ordnungsbestrebungen der staatlichen und städtischen Planungsbehörden und ihre städtebaulichen Konzeptionen in der offenen Bürger- und Verwaltungsstadt beleuchtet werden.
Dabei wird die Frage untersucht, wie die neuen stadtformenden Elemente von Industrieanlagen, Eisenbahnen und Bürgerparks in die Raumordnung integriert wurden. Die Ordnungsprinzipien der Wohnsiedlungen und ihrer Straßenführung sollen ebenfalls beleuchtet werden. Sie werden Auskunft darüber geben, wie bei der Stadterweiterung das mögliche Chaos ungeregelten Wachstums beschränkt und begrenzt werden konnte.
In diesem Prozeß dynamischer Strukturwandlung wird auch nach den Widerständen und entgegenwirkenden Faktoren zu fragen sein. Diesbezüglich ist es von Interesse, wie sich die Ordnungssysteme der Bauverwaltungen durchsetzen ließen, wie Widerstände und gegenwirkende Kräfte abgewehrt werden konnten, bzw. ob diese entscheidende Konzeptionsänderungen hervorriefen und städtebauliche Leitlinien vereitelten.

Die Stadt im 19. Jahrhundert ist gekennzeichnet von starken Veränderungen und Brüchen. Deshalb scheint es angebracht, den Zeitrahmen einzugrenzen. Die Untersuchung, eingeleitet von einem kurzen Überblick auf die Entwicklung der Dresdner Residenzstadt, wird mit dem Festungsabbruch ab 1809 einsetzen und soll mit dem Gründerboom seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts schließen. Das entspricht einer Zeitspanne von ca. 60 Jahren, die im ersten Moment zu weitfassend erscheinen könnte, um eine gründliche Untersuchung der zentralen Aspekte und Intentionen des Städtebaus in dieser Zeit in Dresden vorzunehmen. Aber die Zäsuren sind nicht willkürlich gewählt, denn sie bezeichnen Beginn und vorläufiges Ende einer Konzeptionslinie im Dresdner Städtebau, die aufzuzeigen sein wird.
Die Niederlegung des umfangreichen frühneuzeitlichen Festungssystems stellt einen markanten Einschnitt in der Entwicklung der Stadt dar, indem sie der Residenzstadt nach jahrhundertjähriger Umklammerung die nötige Ausdehnungsmöglichkeit und dynamisches Wachstum ermöglichte. Diese Stadterweiterung, verbundenen mit einer Strukturveränderung im Innenstadtbereich, schlug mit dem Eintritt Sachsens in das 1871 gegründete Deutsche Reich und der damit einhergehenden Gründerzeit in eine andere Qualität um, die neue Dimensionen des Massenwohnungsbaus und der verstärkten Industrialisierung auslösten. Dieser Umbruch führte schließlich dazu, daß sich die beschauliche sächsische Residenz in eine pulsierende, moderne Großstadt umwandelte.

Der zu untersuchende Zeitraum soll sich in drei Teilabschnitte aufteilen, die annähernd der chronologischen Gliederung in Quartale folgen: Das erste Kapitel, 1809 bis 1827, wird den Festungsabriß und die Bebauung bzw. Gestaltung der neu gewonnenen Flächen näher beschreiben. Der zweite Teil befaßt sich mit dem Erlassen der neuen Baugesetzgebung und ihrer Umsetzung durch die städtische Baupolizei bis zur Jahrhundertmitte. Anhand von einigen Beispielen soll das neue Stadtbaukonzept verdeutlicht werden. Im dritten Abschnitt bis zum Beginn der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts soll auf die einsetzende Industrielle Revolution und ihre Bedeutung für die Stadt Dresden eingegangen werden. Die Auswirkungen des 1858 bis 62 aufgestellten Generalbebauungsplanes auf die weitere Stadtentwicklung werden auch hier exemplarisch vorgeführt.

Für die vorliegende Arbeit wurden folgende Quellen relevant:
Zur Darstellung städtebaulicher Entwicklungen eignen sich in erster Linie Stadtpläne und Grundrisse verschiedener Jahre. An ihnen kann man anschaulich die konkrete Ausbildung der Stadtphysiognomie nachvollziehen. In der Arbeit werden mehrere Stadtpläne aus den Jahren 1807 bis 1875 verwendet.
Um die städtebauliche Besonderheit Dresdens im 19. Jahrhundert zu erklären, ist des weiteren eine nähere Auseinandersetzung mit der baulichen Gesetzgebung, insbesondere mit der neuen Dresdner Bauordnung aus dem Jahre 1827 notwendig. Eine Reihe von Einzelbebauungsplänen (Regulativen) sollen die Eigenart der neuen Wohnsiedlungen erläutern.
Wichtig für das Erfassen des Wachstums der Stadt im ausgehenden 19. Jahrhundert wird eine Analyse des Dresdner Generalbebauungsplanes sein, der die weitere verkehrstechnische Ausdehnung der Stadt klärt. Trotz hoher Verluste der Bestände des Dresdner Ratsarchivs durch die Zerstörung der Stadt 1945 wird versucht, eine annähernde Rekonstruktion des Generalbebauungsplanes vorzunehmen.
Schließlich sollen die aussagekräftigsten Quellen im Schriftverkehr zwischen staatlichen Stellen der Landesverwaltung, städtischen Behörden und privaten Bauleuten herangezogen werden, die die damalige Akzentsetzung auf die städtebauliche Verbindung der neuen Wohnviertel, Eisenbahnanlagen und Industriebetriebe an bzw. in den bestehenden Stadtkern verdeutlichen. Das Thema der städtebaulichen Entwicklung Dresdens im 19. Jahrhundert spielte in der historischen Forschung bis 1945 nur eine untergeordnete Rolle. Arbeiten zu Architektur und Städtebau in der sächsischen Hauptstadt bezogen sich vornehmlich auf die Barockzeit. Lediglich die Dissertation von Friedrich Rötschke aus dem Jahre 1931 beschäftigte sich mit der Entfestigung im frühen 19. Jahrhundert.(1)
Erst Mitte der 60er Jahre begannen sich einige Historiker der DDR mit der Darstellung des Dresdner Städtebaus im 19. Jahrhundert eingehender zu befassen.
Eine fundiert auf Quellen basierende Arbeit zum genannten Thema lieferte Werner Pampel in seiner 1964 erschienenen Dissertation, die allerdings erst 1830 einsetzt.(2) Im gleichen Jahr wurde von Berhard Geyer eine umfangreiche Studie zu Fragen der Dresdner Baugesetzgebung von 1720 bis 1827 veröffentlicht.(3) Das Semperjubiläum 1979 brachte teilweise neue Sichtweisen auf das Schaffen Gottfried Sempers.(4)
Unter den neueren Arbeiten ist vor allem die Dissertation von Annette Haufe zu nennen, die sich mit städtebaulichen Ideen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts in Dresden auseinandersetzt.(5)
Alle diese zwischen 1946 und 1989 entstandenen Arbeiten sind jedoch in ihrer Interpretation stark geprägt von politisch-ideologischen Schlußfolgerungen und lassen eine sachliche, entpolitisierte Herangehensweise vermissen. In den meisten Fällen wurde die überregionale wissenschaftliche Literatur zum Thema nicht herangezogen. Die einzige annähernd objektive und ideologiefreie Darstellung städtebaulicher Entwicklung des 19. Jahrhunderts bringt Fritz Löffler in seinem Standardwerk zur Dresdner Architektur.(6)
Nach der politischen Wende 1989/1990 sind zum Thema vor allem die Arbeiten von Volker Helas zur Architekur des 19. Jahrhunderts in Dresden zu nennen, die auch zu städtebaulichen Fragen Stellung nehmen.(7)
Bei der aktuellen Auseinandersetzung mit Fragen des Städtebaus in der Landeshauptstadt Sachsens ist jedoch ein historischer Rückblick auf die städtebaulichen Probleme Dresdens im 19. Jahrhundert, als mit beginnender Industrialisierung ein ähnlich starker gesellschaftlicher Umbruch wie in der Gegenwart zu verzeichnen war, empfehlenswert. Gerade nach Beendigung des gescheiterten Versuchs sozialistischer Zwangsordnung ist eine neue Interpretation bürgerlich geprägter städtebaulicher Leitlinien und Konzeptionen zu wagen.

(1) Friedrich Rötschke, Die Festung Dresden wird offene Stadt, Diss. TH Dresden, Dresden 1931. (im folgenden: Die Festung Dresden).
(2) Werner Pampel, Die städtebauliche Entwicklung Dresdens von 1830 bis zur Ortsbauordnung 1905, Diss. TH Dresden, Dresden 1964.
(3) Bernhard Geyer, Das Stadtbild Altdresdens. Baurecht und Baugestaltung, Berlin (Ost) 1964.
(4) Gottfried Semper zum 100. Todestag, Katalog zur Ausstellung im Dresdner Albertinum v. 5.3. - 16.5.1979, Dresden 1979.
(5) Annette Haufe, Städtebauliches Gestalten als Abbild der sozialen Beziehungen zur Landschaft, erläutert an Beispielen des 18. und frühen 19. Jahrhundert, Diss. TH Dresden, Dresden 1985.
(6) Fritz Löffler, Das Alte Dresden, Leipzig 199211 Volker Helas, Villenarchitektur in Dresden, Köln
(7) 1991; ders., Architektur in Dresden 1800 - 1900, Dresden 1991.